Migrationsdebatte
Lasst uns zusammenstehen!
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14.02.2025
sru
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Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Am 27. Januar 2025, am Holocaust-Gedenktag, formuliert die 103-jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer den Appell, den sie seit Jahrzehnten beharrlich wiederholt. Sie braucht nur noch zwei Worte dafür: „Seid Menschen!“ Und spricht damit aus, was doch das Allereinfachste sein sollte, aber offenbar immer noch zum Schwersten gehört. Seid Menschen.
Zwei Tage später, am Vormittag des 29. Januar 2025, erinnerte der Deutsche Bundestag in einer Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus. Am Nachmittag desselben 29. Januar 2025 erfolgte dann ein Frontalangriff in fünf Punkten auf Grundrechte, Menschenwürde und europäisches Recht – und fand eine Mehrheit im Deutschen Bundestag.
Das Asylrecht, die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention wurden geschaffen, damit Gräuel, wie sie von Deutschen begangen wurden, nie wieder geschehen, damit schutzsuchende Menschen – wie damals die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland – nie wieder vor verschlossenen Grenzen stehen und ihnen die Einreise verweigert wird. Eine Mehrheit im Bundestag will diese menschenrechtlichen Errungenschaften offenbar schleifen. Die flüchtlings- und migrationspolitischen Programme der meisten Parteien der sogenannten Mitte sind mittlerweile weitgehend deckungsgleich.
Zwei Tage nach diesem denkwürdigen und erschreckenden 29. Januar 2025 stand dann noch der Entwurf für ein sogenanntes „Zustrombegrenzungsgesetz“ zur Abstimmung. Der wurde zwar knapp abgelehnt, macht aber deutlich, was der nächste Schritt bei der immer weiter gehenden Entrechtung geflüchteter Menschen sein könnte, nämlich die Abschaffung des Rechts auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Deutsche Bischofskonferenz haben sich im Blick auf den Tonfall der aktuellen Debatte bemerkenswert deutlich geäußert und „zutiefst befremdet“ gezeigt. Solches Reden würde dazu beitragen, in Deutschland lebende Migrantinnen und Migranten zu diffamieren und Vorurteile gegen sie zu schüren. Außerdem könnten die vorgeschlagenen Verschärfungen Taten wie die von Aschaffenburg nicht verhindern. Nicht zuletzt kritisieren die Kirchen, dass die Anträge und der Gesetzentwurf mehrere Punkte enthalten, „die unserer Auffassung nach rechts- bzw. verfassungswidrig sind oder geeignet erscheinen, die Grundpfeiler der Europäischen Union zu erschüttern. So verstoßen dauerhafte Grenzkontrollen und eine Abweisung von Schutzsuchenden an den deutschen Außengrenzen gegen geltendes EU-Recht.“ Auch das Ansinnen einer dauerhaften Inhaftierung von Ausreisepflichtigen, wenn eine Abschiebung absehbar nicht durchgeführt werden kann, verstoße gegen verfassungsrechtliche Garantien. Wir sind dankbar für diese klaren Worte aus den Berliner Büros!
„Seid Menschen!“ appelliert Margot Friedländer, und eine Partei der sogenannten Mitte versucht, ein „Zustrombegrenzungsgesetz“ auf den Weg zu bringen. Schon für den Namen sollten die Initiator:innen sich schämen und um Entschuldigung bitten. „Seid Menschen“, bittet die Holocaust-Überlebende, und ein deutscher Kanzlerkandidat antwortet mit „Das“: „Das, was im Monat abgeschoben wird, ist in drei Tagen wieder da", erklärte Friedrich Merz vor einigen Tagen. Dass „Das” Frauen, Männer, Kinder sind, Menschen halt, das sagt er nicht. „Das” ist eine bewusste und gezielte Entmenschlichung. „Das” gehört ins Wörterbuch des Unmenschen.
Wir leben und wir arbeiten in schwierigen, finsteren und durchaus gefährlichen Zeiten. Es steht gerade viel auf dem Spiel. In der aktuellen Asyl- und Migrationspolitik erleben wir, wie internationale und europäische Rechtsnormen sowie Grundrechte zur Disposition gestellt werden. Das Recht soll weichen, wenn es dem vermeintlichen Mehrheitswillen widerspricht, Menschen von der Schutzsuche in Deutschland abzuhalten. Ist solche Geringschätzung des Rechts erst einmal etabliert, werden nicht mehr nur Migrant:innen und Geflüchtete betroffen sein.
Um dem öffentlich entgegenzutreten, hat die Diakonie Hessen zusammen mit 144 weiteren Landes- und Bundesorganisationen den Appell „Einstehen für die menschenrechtliche Brandmauer“ unterzeichnet.
„Lassen Sie uns zusammenstehen für ein offenes, vielfältiges und demokratisches Land, in dem Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit respektiert und geschützt werden und wo Grundrechte gewahrt werden“, ermuntert unser Vorstandsvorsitzender Carsten Tag.
Lasst uns zusammenstehen! Genau das, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchten wir heute auch zu euch sagen, die ihr ganz vorne „im Wind“ steht, an der Seite derer, deren Rechte schon seit Jahren systematisch ausgehöhlt werden und die nun weiter zermürbt und entrechtet werden sollen. Ihr erlebt vermutlich fast täglich, dass und wie Menschen diskriminiert, diffamiert und zunehmend beschimpft und bedroht werden. Zuweilen bekommt ihr es auch selber ab. All den Hass und die Häme, die mittlerweile nicht mehr nur extreme Rechte über Flüchtlingen und Unterstützer:innen ausschütten, die unverantwortliche Politiker:innen aus sogenannten bürgerlichen Parteien aktuell sogar noch schüren und denen viele Medien, zumindest nach unserer Wahrnehmung, zu wenig entgegensetzen.
„Wir sind der Verfassungsschutz!“, rief der katholische Priester und Pro Asyl-Mitgründer Herbert Leuninger am 3. Oktober 1992 den 100.000 Menschen zu, die im Bonner Hofgarten gegen die damalige Beschneidung des Grundgesetzes in Artikel 16 demonstrierten. Im Vergleich zu damals steht heute sogar noch mehr auf dem Spiel. Wo Grund- und Menschenrechte, rechtsstaatliche Prinzipien und die Gewaltenteilung immer öfter infrage gestellt werden, wo staatliche Gewalt die Menschenwürde nicht mehr – wie es ihr in Artikel 1 des Grundgesetzes aufgetragen ist – hinreichend achtet und schützt, werden zivilgesellschaftlicher Widerspruch und eigener Einsatz immer wichtiger. „Wir sind der Verfassungsschutz!“ Lasst uns gemeinsam überlegen, was das in den kommenden Zeiten konkret heißen kann und muss, vor Ort, in Einrichtungen, Gemeinden, Nachbarschafts- und Sozialräumen, sowie auf Landes- und Bundesebene.
Mit herzlichen Grüßen vom gesamten Team FiAM in Frankfurt und Kassel
Andreas
Zur Person
Pfarrer Andreas Lipsch ist Interkultureller Beauftragter der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und Leiter der Abteilung FiAM (Flucht, Interkulturelle Arbeit, Migration) bei der Diakonie Hessen.
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